Starke Frauen: Meine Backnang-Oma

Starke Frauen: Meine Backnang-Oma

Bei der Recherche zu meiner Blogparade „Starke Frauen – eine Kurzbiografie“ bin ich auf ein Kinderbuch über starke Frauen gestoßen, in dem es um „Astronautinnen, Schriftstellerinnen, Königinnen, Wissenschaftlerinnen“ geht, die „außergewöhnlich“ und „echte Vorbilder“ sind. Das ist sicher gut und wichtig. In meiner Blogparade soll jedoch Platz sein für Zwischentöne, für Schwächen, für das Unperfekte. Mit meinem eigenen Beitrag möchte ich daher meiner Oma, einer schwäbischen Hausfrau, ein Denkmal setzen.

Lange Zeit kam mir meine Backnang-Oma überhaupt nicht stark vor. In meiner Familie wurde sie belächelt, denn sie hatte einen niedrigen Schulabschluss, war meist mit Backen, Putzen oder den Enkelkindern beschäftigt und ihre größte Sorge galt dem, was wohl die Nachbarn denken könnten. Also eher ein Anti-Vorbild, um nicht zu sagen das Feindbild der modernen Frau, die zum Beispiel meine Mutter sein wollte und die auch ich werden sollte.

Mein Blick auf meine Oma war lange durch die Perspektive meiner Mutter gesprägt, die zeitlebens ein zwar durchaus enges, aber sehr zwiespältiges Verhältnis zu ihrer Mutter hatte. Besonders in ihrer Jugend litt sie sehr unter ihrem strengen, schwäbisch-spießigen Elternhaus und darunter, dass der Schein immer gewahrt werden sollte.

Gertrud Gschwindt – stark auf den zweiten Blick

Trotzdem ist meine Großmutter die erste starke Frau, über die ich in meiner neuen Serie schreiben werde. Ich habe sie als geduldige, stets freundliche Oma in Erinnerung, die mit uns Enkelkindern (und später sogar noch mit den ersten Urenkeln) auf dem Boden rumkrabbelte und dabei meist lächelte. Erst recht spät wurde mir klar, was diese Frau in ihrem Leben alles erlebt hatte und verkraften musste. Mir wäre das Lachen längst vergangen. Wie meine Oma mit all den Verlusten fertig wurde und dabei kein bisschen verbittert wirkte, das finde ich stark und anerkennenswert.

In diesem Artikel geht es also um Gertrud Gschwindt, geborene Boss. Warum sie für mich die ‚Backnang-Oma‘ war und welche traurige Entdeckung ich bei der Familienforschung vor Kurzem machen musste, erfahrt ihr hier.

Elternhaus

Geboren und aufgewachsen ist meine Oma in Schorndorf, einer Kleinstadt zwischen Stuttgart und Schwäbisch Gmünd. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt, am 28. November 1917, hatte Schorndorf etwas weniger als 7000 Einwohner. Der Erste Weltkrieg war in vollem Gange.

Ihr Vater, Reinhold Boss, stammte aus Unterweissach bei Backnang und war laut Auszug aus dem Familienregister in Schorndorf ‚Telefonaufseher‘, was nachträglich zu ‚Telegrafenaufseher‘ korrigiert worden war. Offensichtlich war dieser Unterschied entscheidend. Welche genaue Tätigkeit sich hinter der Berufsbezeichnung verbirgt, konnte ich bisher nicht herausfinden. In der Familie heißt es, er war bei der Post.

Ihre Mutter Pauline war gebürtige Schorndorferin, die Eheschließung erfolgte allerdings am 18. September 1914 in Mannheim. War Reinhold Boss eventuell dort als Soldat stationiert? Immerhin befand sich das Deutsche Reich zu diesem Zeitpunkt seit anderthalb Monaten im Krieg.

Eine Anfrage beim Bundesarchiv läuft zur Zeit ergab mittlerweile (16.01.24), dass mein Uropa tatsächlich als Soldat des Infanterie Regiments N 180, 3. Battalion, gleich zu Beginn des Krieges, nämlich am 12. September 1914, durch einen Lungenschuss verwundet wurde und deshalb im Lazarett V „Kurfürstenschule“ in Mannheim behandelt wurde.

Die Hochzeit fand dort bereits 6 Tage später statt, vermutlich war es eine Art Nottrauung? Mein Uropa blieb auf jeden Fall bis zum 22.2.1915 in diesem Lazarett und wurde dann zur Weiterbehandlung nach St. Blasien verlegt.

Alle Kinder aus dieser Ehe wurden in Schorndorf geboren: Der Stammhalter Ludwig Reinhold, am 6. Juni 1916, im Jahr darauf meine Oma Paula Gertrud und am 16. Juli 1920 schließlich das Nesthäkchen, Jürgen Erwin.

Kindheit im Schwäbischen

Über die Kindheit meiner Oma weiß ich leider fast nichts mehr, obwohl sie mir als Kind davon erzählte. Mit einem Schaudern lauschte ich den Geschichten aus ihrer Schulzeit, als es noch Schläge auf die Finger gab, wenn die Fingernägel nicht geputzt waren. In ihrer Jugend war sie im Sportverein aktiv, dort lernte sie wohl auch meinen Opa kennen. Nicht nur mein Gedächtnis lässt mich hierzu im Stich, auch Fotos aus dieser Zeit habe ich nicht.

An das Elternhaus meiner Oma kann ich mich noch vage erinnern. Mein Urgroßvater starb, als ich fünf war und ich weiß noch, dass ich mich in dem kleinen, ärmlichen Haus nie wohlgefühlt habe. Es roch nicht gut, die Toilette war auf dem Gang und die Zimmer waren klein, dunkel und geduckt. Das Haus stand in der Nähe des Bahnhofs, vor einigen Jahren wurde der gesamte Straßenzug abgerissen. Immerhin kam der Kleiderschrank meiner Urgroßeltern auf Umwegen in meinen Besitz und ich halte ihn seither in Ehren.

Tod des kleinen Bruders und der Mutter

Von meiner Oma nur nebenbei erwähnt, lässt sich nun anhand des Auszugs aus dem Familienregister nur noch anhand nüchterner Daten nachvollziehen, dass ihr jüngerer Bruder Jürgen am 24. September 1927 starb, also mit gerade sieben Jahren. In Tübingen, in der Ohrenklinik. Ich meine, dass er von der Schaukel gefallen und an den Verletzungen gestorben sei. Was für ein Alptraum! Meine Oma war damals neun Jahre alt. Was der Tod des kleinen Jürgen für sie und ihre Familie bedeutete, kann ich mir nur ausmalen.

Am 16. Oktober 1936 trat meine Oma ihre Stelle als Verkäuferin bei der Verbrauchergenossenschaft Ludwigsburg an. Heute dauert die Fahrt von Schorndorf nach Ludwigsburg mit der S-Bahn knapp eine Stunde. Ob meine Oma damals pendelte oder ein Zimmer in Ludwigsburg hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls musste sie nach sechs Monaten „durch die schwere Erkrankung ihrer Mutter … ihre Stellung… wieder aufgeben, um heimzukehren“, wie es im mir vorliegenden Zeugnis vom 1. März 1937 heißt. Am 18. April 1937, meine Oma war gerade 18 Jahre alt, starb ihre Mutter.

Sie musste also schon in sehr jungen Jahren mit dem Verlust zweier geliebter Menschen fertig werden. Zudem war die Zeit ihrer Kindheit und Jugend zwischen den beiden Weltkriegen mehr als herausfordernd für die Bevölkerung. Es gab Lebensmittelknappheit, die Hyperinflation und politische Unruhen, die sich durch die gesamte Weimarer Republik zogen und sicherlich auch im schwäbischen Schorndorf für schwierige Zeiten sorgten.

Jugend im Nationalsozialismus

Schon als Kind interessierte ich mich sehr für die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. Meine Oma war es, die mir das Buch „Emma oder Die unruhige Zeit“ von Ursula Fuchs schenkte. Auch beim „Nesthäkchen“, das ich mit meiner Oma las, wurde das Thema Krieg gestreift. Ich hatte so viele Fragen! Leider erfuhr ich von meiner Oma nur sehr wenig über ihr Erleben dieser dunklen Zeit.

Ich weiß noch, dass ich recht enttäuscht war, dass meine Oma so gar nichts vom NS-Regime und vom Krieg mitbekommen zu haben schien. Einzig die Sportbegeisterung könnte irgendwie mit einer nationalsozialistischen Jugendgruppe zu tun haben, ich meine, sie hätte auch vom BDM (Bund Deutscher Mädchen) erzählt.

Wie meine Nachforschungen nun ergeben haben, lebte 1933 in Schorndorf tatsächlich nur eine jüdische Familie, die Familie Anspach, die ein Warenhaus am Marktplatz hatte. Am 1. April 1933 drohten zwei SA-Leute, die sich vor dem Eingang postiert hatten, den Kunden mit der Einlieferung ins Konzentrationslager, sollten sie sich dem Boykottaufruf widersetzen. Bis 1937 gelang es allen Mitgliedern dieser Familie, in die USA zu emigrieren (Quelle: Alemannia Judaica -Jüdische Geschichte).

Auch gegen politisch unliebsame Schorndorfer gab es Protestkundgebungen und Aufmärsche, die in der Bevölkerung sicher nicht unbemerkt geblieben waren. Wen es genauer interessiert, wie es in Schorndorf während der NS-Zeit zuging, der findet beim Landesbildungsserver eine sehr aufschlussreiche Zeittafel.

Im Nachhinein ist es schwierig nachzuvollziehen, ob meine Oma von all dem wirklich kaum etwas mitbekommen hatte oder ob sie darüber nicht sprechen wollte. Wie sich noch zeigen wird, war das aber generell ihre Strategie, mit Krisen und herausfordernden Situationen umzugehen: Nicht darüber reden, sondern weitermachen, als wäre nichts gewesen.

Kriegshochzeit und Tod des ersten Sohnes

Verlobungsfoto meiner Großeltern 1939

An ihrem 22. Geburtstag, dem 28.11.1939, heiratete meine Oma ihren Verlobten, Albert Max Gschwindt. Mein Opa war nach einer kaufmännischen Ausbildung schon im Juli 1934 in die Wehrmacht (Reichs- später Kriegsmarine) eingetreten und zur Zeit der Hochzeit als Funkmaat in Kiel bzw. Swinemünde stationiert. Laut eigener, eidesstattlicher Auskunft blieb er die ganze Zeit Soldat und wurde erst „nach ununterbrochener Dienstleistung mit dem Dienstgrad Stabsoberfunkmeister am 14.8.1945 aus englischer Kriegsgefangenschaft“ und damit auch aus der Wehrmacht entlassen.

Am 7. September 1940, während des Krieges, kam ein Sohn, Klaus Jürgen, zur Welt. Mit gerade mal zwei Jahren starb er aber schon am 26. Dezember 1942 an Krebs. Mehr weiß ich über ihn und seinen Tod nicht, zum Beispiel, wo er beerdigt wurde, ob meine Oma in dieser Zeit alleine mit ihm war oder ob mein Opa ‚Heimaturlaub‘ hatte.

Es gab später keine Fotos von ihm in der Wohnung, obwohl meine Oma etliche Fotos von ihren Töchtern und den Enkeln aufgehängt hatte, es gab auch keinen ‚Gedenktag‘. Nie wurde über ihn gesprochen. Mir wurde erst jetzt, bei der Durchsicht der Unterlagen klar, dass er am zweiten Weihnachtsfeiertag gestorben ist. Dieser schmerzliche Verlust war nie ein Thema in der Familie, obwohl wir Weihnachten immer zusammen gefeiert haben!

Zuckersüß – meine Mama

Meine Mutter, Ingrid Sibylla, wurde am 6. April 1944 in Schorndorf geboren. Es ist überliefert, dass meine Oma sie mehrfach im Wäschekorb mit in den Luftschutzbunker nahm. Das hörte sich in den Erzählungen für mich immer irgendwie lustig an. Sicher war es das für die junge Mutter nicht.

Der Krieg endete in Schorndorf am 21. April 1945 mit einer kampflosen Übergabe der Stadt an die Amerikaner. Es wurde gerne erzählt, dass meine Mutter nach Kriegsende das erste Mal Schokolade von einem amerikanischen Soldaten geschenkt bekam. Sie soll sich sehr gefreut und „Das s-meckt ja sucker-süß!“ gerufen haben. Mehr als diese beiden Anekdoten (Wäschekorb und Schokolade) war über die Kriegszeit von meiner Oma nicht zu erfahren.

Nachkriegszeit – das Mädelstrio ist komplett

Bereits im November 1945, fast unmittelbar nach seiner Entlassung aus kurzer Kriegsgefangenschaft, wurde mein Opa ‚Landespolizei-Anwärter im Detektivdienst’ und damit zum Beamten auf Widerruf. Er hatte somit in den Wirren der Nachkriegszeit eine feste Stelle, was natürlich ein großer Vorteil für die Familie war. Im April 1946 gab er als Adresse die Grabenstraße 4 in Schorndorf an, entweder war das die Adresse des Elternhauses meiner Oma oder in unmittelbarer Nähe.

Am 30. Mai 1946 kam meine Tante Sibylle zur Welt, noch in Schorndorf. Meine Tante Susanne komplettierte schließlich das Mädchentrio am 18. Oktober 1950.

Mein Opa war mittlerweile Kriminalkommissar in Backnang und die Familie wohnte dort in einer Dienstwohnung direkt in der Polizeiwache. Wie meine Mutter später gerne erzählte, war unten im Keller eine Art Gefängnis untergebracht und die Kinder (und vielleicht auch deren Mutter?) gerieten jedes Mal in große Aufregung, wenn wieder ein Ganove dort für ein paar Tage einsaß.

Es geht aufwärts – Wirtschaftswunderzeit

1955 fand dann der Einzug ins eigene Haus in einem damals neuen Backnanger Wohngebiet statt. Und auch das Wirtschaftswunder hielt Einzug, was zahlreiche Fotos belegen. Eine Nachbarin meiner Oma erzählte mir, dass meine Oma immer sehr stolz auf ihre drei ‚feschen‘ Mädchen war und großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte.

Anfang der 60er Jahre fuhr die Familie nach Italien in den Urlaub. Auch die Wohnungseinrichtung wurde nach und nach ‚ausgetauscht‘, was bei meinen Eltern für einen gewissen Spott sorgte, weil sich meine Oma mit sogenannten ‚Stilmöbeln‘, statt mit echten Antiquitäten, einrichtete.

Aber das war ihr halt sehr wichtig: dass der äußere Schein stimmte. „Was sollen denn die Nachbarn denken“ lag immer in der Luft. Meine Oma war eine fleißige Hausfrau, die meiner Mutter später, als die ihren eigenen Haushalt mit drei Kleinkindern bewältigen musste, gerne auch mal „Sau“ in die Staubschicht eines Regals schrieb. Einfach nur faul rumsitzen und lesen, das gab es für meine Mutter schon in der Jugend nicht. Lesen, das war schließlich keine nützliche Beschäftigung für eine junge Frau!

Allerdings erzählte mir meine Mutter über ihre Kindheit später, dass meine Oma mehr als einmal von zuhause verschwunden war und dann von meinem Opa und meiner Mutter gesucht werden musste. Ganz spurlos scheinen die Anstrengungen, die es erforderte, den schönen Schein aufrecht zu erhalten, wohl doch nicht an ihr vorbeigegangen zu sein.

Meine Backnang-Oma

Das erste Enkelkind war ich. Als ich am 14. Dezember 1971 geboren wurde, lebten meine Eltern in Nürnberg, aber als mein Vater sein Studium beendet hatte, zogen wir zurück in die Heimat, räumlich genau zwischen die beiden Großelternpaare, nach Remseck. Und da ich ziemlich schnell zwei Geschwister bekam, verbrachte ich viel Zeit bei meiner Oma. Ja, der Opa war auch immer dabei, spielte aber irgendwie keine so große Rolle für mich.

Auch sonst war der Kontakt mit den Großeltern eng, sämtliche Familienfeiern wurden gemeinsam begangen, oft auch im erweiterten Kreis mit der Schwiegerfamilie. Später fuhren wir öfter zusammen in den Urlaub.

Meine Oma und ich

Wenn ich bei meiner Oma war, wurde ich rundrum verwöhnt. Meine Mutter bemerkte oft verwundert, dass sich ihre Eltern als Großeltern ganz anders verhielten, als sie das von ihnen kannte. Was wir genau unternahmen, weiß ich nicht mehr, aber ich liebte es, auf der ‚Bühne‘ (schwäbisch für Dachboden) zu kruschteln, vorgelesen und erzählt zu bekommen oder von meiner Oma massiert zu werden.

Die backende Oma

Das Essen meiner Oma war eher ‚basic‘, aber Backen war genau ihr Ding. Zum Geburtstag wünschte ich mir immer die ‚Hamburger Schnitten‘, gerne mochte ich auch den Marmorkuchen, Gugelhupf genannt, und natürlich ihre legendäre Schwarzwälder Kirschtorte. Bei meinen Geschwistern war besonders der Käsekuchen beliebt. Jedes Mal aufs Neue freuten wir uns auf das Weihnachtsgebäck, die Gutsle, von denen es immer eine große Auswahl gab.

Die Backkünste meiner Oma waren auch bei meinen Freundinnen bekannt und so schlussfolgerte eine logisch, dass die Oma darum wohl auch ‚Backnang-Oma‘ genannt würde. Leider stimmte das nicht, es deutete lediglich auf ihren Wohnort hin, in Abgrenzung zu den anderen Großeltern, der Harthausen-Oma und dem Harthausen-Opa. Keine Ahnung, wer sich das ausgedacht hatte.

Nur ein Mal erlebte ich meine Oma ungehalten: Ich hatte mir Milchreis gewünscht. Da meine Mutter solche Süßspeisen verabscheute, gab es das bei uns nie und ich hatte in einem Puppenspiel davon gehört. Also bereitete mir die Oma Milchreis zu. Eine Stunde lang stand sie am Herd und rührte im Milchreis, nur um dann feststellen zu müssen, dass er mir nicht schmeckte. Da war sie ehrlich enttäuscht und aufgebracht über die verschwendete Zeit.

Marc Tinos Tod

Anfang März 1979 ereignete sich ein schlimmer Unfall, der unsere Familie für immer zeichnen sollte: Mein Cousin Marc, vier Jahre alt, wurde vor den Augen seiner Mutter, meiner Tante Sibylle, überfahren.

Sibylle, Marc und der Vater, mein Onkel Rainer, waren auf dem Weg zu meinen Großeltern. Unterwegs ging der Papa noch kurz zur Bank und die Mama wollte eine Zeitschrift mit Kreuzworträtseln für den Opa besorgen. Marc sollte im Auto warten. Er wurde jedoch ungeduldig, kletterte aus dem Auto und lief über die Straße auf seine Mama zu, die auf der gegenüberliegenden Seite schon aus dem Laden getreten war. In diesem Moment kam jedoch ein Lieferwagen herangefahren und erfasste ihn. Marc starb direkt noch an der Unfallstelle.

Tante Sibylles Selbstmord

Marc Tino war das einzige Kind meiner Tante, ihr Sonnenschein. Später konnte ich die Baby-Tagebücher lesen, die sie geführt hatte. Nahezu jede Kleinigkeit war darin mit liebevoller Sorgfalt notiert. In der Traueranzeige hieß es: „Warum kann das Schicksal so hart sein, dass der ganze Inhalt unserer Lebens einem sinnlosen Tod geopfert wird?“

Anfang Mai war meine Tante plötzlich verschwunden. Sie wurde zwei Wochen lang gesucht, über Zeitungsaufrufe und mit dem Hubschrauber. Dann fand man sie tot in ihrem Auto; sie hatte sich das Leben genommen, weil sie den Schmerz und die Schuldgefühle nicht ertragen konnte.

Eine Familientragödie, die nie thematisiert wurde

Das alles schreibe ich hier so sachlich, da ich es genauso emotionslos erinnere. Weder bei der Beerdigung meines Cousins, noch bei der Beerdigung meiner Tante war ich dabei. Es wurde von da an auch nicht mehr über die beiden gesprochen. Gerade gegenüber meiner Oma musste man sehr vorsichtig sein, damit sie nicht an ihre Tochter oder das Enkelkind erinnert wurde. Zahlreiche Fotos verschwanden von der Wand. Der Verlust war so unerträglich, dass er niemals mehr erwähnt werden durfte. So habe ich das jedenfalls verinnerlicht.

Auch in meiner Kernfamilie gab es keine Trauerarbeit. Jeder war für sich selbst mit seiner Trauer beschäftigt und damit allein. Inwieweit die Alkoholabhängigheit meiner Mutter von diesen Ereignissen begünstigt wurde, ist natürlich schwer zu sagen. Aber dieser ungesunde Umgang mit der Trauer, dieses Schweigen und Verdrängen, wirkt bis heute in mir nach.

Das Leben geht weiter

Das Leben ging also weiter und auch meine Oma machte wieder einmal weiter, beinahe so, als wäre nichts geschehen.

Bis ich ungefähr 15 war, setzte sich unser Großfamilienleben ‚harmonisch‘ fort. ‚Harmonisch‘ in Anführungszeichen, weil es in meiner Kernfamilie natürlich schon längere Zeit knirschte, es sich aber nach außen hin nicht zeigte. Irgendwann wurde allerdings der Alkoholismus meiner Mutter so gravierend, dass er auch vor meiner Oma nicht mehr verheimlicht werden konnte. Außerdem zerbrach die Ehe meiner Eltern. Und das, obwohl der Oma doch immer so wichtig war, dass nach außen alles stimmte. Und wo meine Mutter doch einen so erfolgreichen, vorzeigbaren Ehemann ergattert hatte. Weitere, harte Schläge.

Wir Enkelkinder besuchten meine Großeltern zwar weiterhin, gemeinsame Familienfeiern wie früher, Weihnachten mit der ganzen Familie, gab es aber so nicht mehr. Bei Geburtstagen, Konfirmationen und ähnlichen Feierlichkeiten war immer fraglich, in welchem Zustand meine Mutter sein würde. Entsprechend fiel auch die Feier aus.

Diamantene Hochzeit

Ein großes Ereignis konnten wir aber wirklich noch würdig begehen, nämlich die diamantene Hochzeit meiner Großeltern! Der 60. Hochzeitstag fand am 28.11.1999 statt, dem 82. Geburtstag meiner Oma. Mit dabei waren schon zwei Urenkelkinder, die ein kleines Gedicht vortrugen: „Liebe Oma, lieber Opa, wir sagen euch heute ein Gedicht, aber nur wenn ihr euch küsst.“ (kurze Pause für den Kuss) „Danke, danke, dankeschön, wir wollten nur das Küssen sehen.“

Meine Oma an ihrem 60. Hochzeitstag, der auch ihr 82. Geburtstag war

Uroma mit holprigem Start

Als ich mit 23 Jahren recht ungeplant und für alle überraschend schwanger wurde, musste ich mich von vielen Menschen fragen lassen, warum ich das Kind nicht abtreiben lassen würde. Immerhin steckte ich mitten im Studium und kannte den Vater des Kindes erst seit ein paar Wochen.

Dass sogar meine Oma mir zuraunte, ob man „so ein Kind heutzutage noch kriegen müsse“, fand ich schockierend. Mittlerweile kann ich ihre Bemerkung einordnen und nachvollziehen, damals wäre ich schier aus den Latschen gekippt und ich habe diesen Moment noch heute genau vor Augen, bzw. in den Ohren. Später dazu mehr.

Umso erstaunlicher war dann für mich, dass meine Oma mich von Anfang an massiv unterstützte. Den Kinderwagen haben wir gemeinsam ausgesucht, sie bezahlte ihn; auch die Kinderzimmermöbel gingen auf ihre Rechnung. Als Baby Isabelle Sophie erst da war, wurde es liebevoll willkommen geheißen und auch weiterhin auf das Beste ausgestattet.

Genauso wie der zweite Urenkel, Johannes, er hatte ebenfalls eine echte (Ur-)Oma in ihr, die unterm Tisch rumkrabbelte und Bilderbücher vorlas. Meine Tochter Anna war gerade erst neun Monate alt, als meine Oma starb.

Kurze Krankheit und Tod

Am frühen Morgen des 19. Dezembers 2001, mit 84 Jahren, erlag meine Oma ihrer Krebserkrankung. Von der Diagnose bis zu ihrem Tod verging nur kurze Zeit. Eigentlich war sie nach der sofort erfolgten Operation zur Reha in einer Klinik, doch dort verschlechterte sich ihr Zustand sehr schnell.

In ihren letzten Stunden konnten meine Mutter mit ihrem Lebensgefährten, meine Schwester und ich bei ihr sein. Da ich meine kleine Anna noch stillte und nicht so lange wegbleiben wollte, fuhr ich nachts nach Hause und war nicht direkt dabei, als sie aus dem Leben schied.

Es hatte jedoch etwas sehr Tröstliches, mich von ihr an ihrem Sterbebett verabschieden zu können. Sie ist der bisher einzige Mensch, bei dem mir das möglich war. Der Sterbevorgang erinnerte mich stark an eine Geburt, es war, als würde sie darum ringen, endlich erlöst zu werden. So wie eine Mutter sich durch die Wehen kämpft, bis endlich das Baby geboren wird. Nur andersherum.

Was von meiner Oma bleibt

Wenn ich mir jetzt ihre Lebensgeschichte durchlese, fällt mir auf, wie wenig Persönliches ich über meine Oma zu erzählen habe. Sie war Tochter, Ehefrau, Mutter, Oma – immer fleißig, stets adrett, beklagte sich nie. Aber sie hatte keine Hobbies, keinen Beruf, keine außergewöhnlichen Begabungen, vielleicht noch nicht mal eine eigene Meinung. Ich weiß nichts über ihre Träume oder welche Wünsche sie für ihr Leben hatte.

Je älter ich werde, desto unfassbarer kommt mir all das Leid vor, das meine Oma in ihrem Leben ertragen musste. Es steht in krassem Widerspruch zu ihrem herzlichen, geduldigen Wesen. Wenn ich jetzt zurückdenke oder in den wenigen Fotos stöbere, meine ich, hin und wieder einen irgendwie verlorenen Blick zu erkennen, der auf ihr mühevolles, tapferes Ausharren hindeutete.

Ich möchte meine Oma hier keinesfalls als Vorbild im Hinblick auf den Umgang mit Verlusten und Trauer darstellen. Durch dieses Verdrängen, nicht Hinschauenwollen oder -können ist viel weiteres Leid in unserer Familie entstanden. Aber für meine Oma war es wohl die einzige Möglichkeit, weiterzuleben und für ihre Lieben da zu sein.

Dabei wirkte sie nie verbittert. Außerdem sah sie sich nie als Opfer, suchte die Schuld bei anderen oder verlor ihren Lebensmut. Das sind Eigenschaften, für die ich sie sehr schätze. Dafür möchte ich ihr danken und durch diesen Beitrag ein kleines Denkmal setzen.

Bei einem Austausch über die Arbeit mit Genogrammen schnappte ich kürzlich einen spannenden Gedanken auf: Auch wenn wir heute in einer Zeit leben, die uns sehr viele Möglichkeiten für die Aufarbeitung eigener und transgenerationaler Traumata bietet – und wir uns in meiner ‚Bubble‘ dafür als Cyclebreakerinnen feiern, haben doch auch unsere Mütter und Großmütter schon versucht, es besser zu machen als ihre Eltern. Sie waren also auch gewissermaßen Cyclebreakerinnen, in dem Rahmen, der ihnen zur Verfügung stand.

Baby Hannelore

Zu guter Letzt möchte ich hier noch einem Menschen Raum geben, der bisher keinen hatte, ja, eigentlich gar nicht existierte: Baby Hannelore.

Für meine Familienforschungen lasse ich mir hin und wieder Auszüge aus Familienbüchern oder andere Urkunden schicken. Im Auszug des Familienregisters meiner Urgroßeltern stieß ich auf einen Eintrag, der mich wirklich erschütterte. Meine Oma brachte am 6. Februar 1936 in Stuttgart ein uneheliches Mädchen zur Welt. Hannelore starb jedoch schon knapp zwei Monate später, am 13. März 1936.

Über die näheren Umstände (Wer war der Vater, woran starb Hannelore, warum wurde sie in Stuttgart geboren?) habe ich noch keine Informationen. Eventuell kann ich über die Geburts- oder die Sterbeurkunde noch Genaueres erfahren, falls ich die bekommen kann. Die einzige noch lebende Person, die ich dazu befragen konnte, meine Tante Susanne, wusste nichts von ihrer Schwester.

Dieses ‚Geheimnis‘ hatte meine Oma offensichtlich ihr Leben lang vor den ihr nahestehenden Menschen bewahrt. Als ich davon erfuhr, fiel mir sofort die Bemerkung meiner Oma anlässlich meiner ersten Schwangerschaft ein: „Muss man so ein Kind denn heute noch kriegen?“ Wie schwer muss es zur damaligen Zeit gewesen sein, ein uneheliches Kind zu bekommen? Wie haben sich wohl die Leute darüber ‚das Maul zerissen‘?

Erst in den letzten Tagen kam mir dazu der Gedanke, ob in diesem Erlebnis nicht auch ein Schlüssel dafür stecken könnte, dass es meiner Oma stets darum ging, was wohl die Leute sagen. Dass es ihr vielleicht deshalb so ungeheuer wichtig war, den äußeren Schein zu wahren, um nie mehr eine Angriffsfläche für Gespött und Geschwätz zu bieten.

Ein Kommentar

  1. Liebe Carolin, ich bin sehr berührt von der Geschichte deiner Oma. Vielleicht ist es gerade dieses über allem liegende Schweigen, was mich so berührt, denn ich glaube, es war sehr verbreitet in der Generation unserer Großeltern. Wie viel Leid deine Oma ertragen musste und dennoch war sie für die Kinder immer da. Ich finde es faszinierend, wie du vorgehst und recherchierst und dass du so noch nachträglich Geschehnisse aus dem Leben der Eltern und Urgroßeltern aufdeckst.
    Für den Satz „Sie waren also auch gewissermaßen Cyclebreakerinnen, in dem Rahmen, der ihnen zur Verfügung stand.“ bin ich dir richtig dankbar, weil darin so viel Wertschätzung liegt für die Leistung und das Leben der Mütter und Großmütter.
    Danke für diesen Beitrag! Ich bin sehr gespannt auf weitere Beiträge in deiner neuen Serie. Liebe Grüße Sylvia

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner