Liebesbrief an meine Körperin

La tête, c’est moi!

Der Kopf, das bin ich; oder besser: Ich bin mein Kopf! Sehr frei nach König Ludwig, dem 14., endete mein ‚Ich‘ für mich lange knapp unterhalb des Halsansatzes. Der Rest meines Körpers schien weit entfernt und irgendwie nicht zu mir zu gehören. Er war quasi ein Fremdkörper.

Naja, wenn ich ehrlich bin, ist das eigentlich noch immer so. Ich bin nur gerade dabei, diese Trennung zu überwinden. Deshalb hat mich das Thema von Sandra Hoppenz‘ Blogparade „Liebesbrief an meinen Körper“ auch direkt angesprochen. Und tadaaa, hier ist er, mein Liebesbrief:

denn bei einer Internetchallenge verwendete die Veranstalterin sehr liebevoll den Begriff ‚Körperin‘, das klang so raubtierartig geschmeidig, irgendwie cool, aber auch sehr ungewohnt. Es ist allerdings ebenso ungewohnt, mit dir zu sprechen, liebe Körperin, also bleibe ich für heute mal dabei. Neue Zeiten erfordern neue Gewohnheiten!

Obwohl wir schon so lange miteinander durch dick und dünn gehen, habe ich mich bisher nicht groß um dich gekümmert. Ja, du solltest immer zur Verfügung stehen, aber bitte nicht allzu viel Aufwand erfordern. Und was habe ich mich über dich geärgert, über deine ausladenden Formen. Schon als Grundschulkind machte mich eine Mitschülerin darauf aufmerksam, dass deine Oberschenkel viel dicker seien als ihre. Ein echter Grund, mich für dich zu schämen, mein Leben lang, bis jetzt.

Um mich herum tobte der Schlankheitswahn. Meine Mutter war auf Dauer-Diät, die „Brigitte“, die sie abonniert hatte, und die ich natürlich auch las, bot dafür immer wieder neue Anreize. Ich erinnere mich, wie ich mit 13 Jahren die Kalorien meines Frühstücks (50 g Haferflocken, 4 Haselnüsse, 200 ml Milch oder so ähnlich) in einem Notizbuch notierte. Zum Glück hielten die Neujahrsvorsätze nicht allzu lange, aber der Same der Zwietracht war gesät.

Als ich ungefähr in diesem Alter bei einem Besuch meine Tante um Schokolade anbettelte, bäffte sie mich, wohl in einem Moment der Überforderung, genervt an: „Mensch, du bist eh schon dick genug.“ Ein Satz, einfach so herausgeschleudert, der sich aber in meinem Gedächtnis verhakte wie ein Angelhaken im Maul eines unglückseeligen Fisches.

Als du während meiner Wachstumsphase in die Höhe schossest, hätte ich eigentlich mit dir glücklich sein können, doch mein Selbstbild war schon getrübt. Ich war die mit den dicken Schenkeln. Tigh gap? Fehlanzeige. Es war die Zeit der Supermodels, Kate Moss war figurmäßig die Messlatte.

Aber nicht nur wegen deiner dicken Schenkel und der breiten Hüften fand ich dich unmöglich, auch deine Behaarung so nach dem Motto „Beine wie ein Reh! So schlank? Nein, so behaart“ machten es für mich unmöglich, mich mit dir zu zeigen. Schwimmbadbesuche? Ein Horror! Kurze Klamotten im Sommer? Von Jahr zu Jahr wurden meine Kleider länger und wallender.

Im Rückblick, beim Durchschauen alter Fotos, könnte ich heulen, liebe Körperin. War ich eigentlich blind? Heute wiege ich fast 15 kg mehr als in guten Zeiten, die ich damals aber leider gar nicht gut fand. Wir hätten schon damals beste Freundinnen sein können, hätten uns gut ergänzen und eine unbeschwerte Zeit miteinander haben können. Aber ich hatte stets ein unerreichbares optisches Idealbild vor Augen und kümmerte mich ansonsten nur darum, wie es mir, dem Kopf, ging.

Während meiner ersten Trennung und Scheidung wurdest du dann sogar Mittel zum Zweck. Wenn ich schon sonst nichts mehr im Griff hatte, dann wenigstens dich, meinen Körper (damals warst du keine Körperin, damals warst du der Fremdkörper). Ich machte jeden Tag exzessiv Sport und aß fast nichts mehr. Das bescherte mir einige Erfolgserlebnisse und viel Zuspruch, weil wir so toll aussahen wie nie zuvor. Gesund war es nicht – und durchgehalten habe ich auch nicht lange.

Es zeigte mir aber, wie du aussehen und was du leisten könntest, wenn ich mir mehr um dich kümmern würde. Und das werfe ich mir wirklich vor, dass es mir nie um dein Wohl ging, sondern immer nur um dein Aussehen. Nun werde ich älter und muss mich wohl oder übel von meinen optischen Idealen verabschieden, wenn ich einigermaßen friedlich altern möchte. Was es mir leichter macht: Es passt so gut in die Zeit!

Tatsächlich finde ich die Ansätze zur Body-Positivity, wie ich sie vor allem auf Instagram finde, gut und hilfreich. Nach all den schlanken, glatten, perfekten Körpern, mit denen ich mein Leben lang auf Werbetafeln und in Zeitschriften konfrontiert worden bin, gewöhnt sich mein Blick so langsam an die Bandbreite der körperlichen Erscheinungsformen. Und da muss ich sagen, liebe Körperin, wir liegen mittendrin!

Ja, manchmal wird das ganze ad absurdum geführt, wenn eine gertenschlanke Influencerin mühsam ihr Bäuchlein rausdrückt, um zu zeigen, dass sie kein Problem mit ihrer Wampe hat. Aber für mich überwiegt das (Body-)Positive. Außerdem folge ich solchen Accounts nicht und sehe die höchtens hin und wieder durch Zufall.

Einen richtigen Aha-Effekt hatte ich, als Mira aus dem fliegenden Haus mal über Selbstliebe sprach. Selbstliebe hat überhaupt nichts damit zu tun, sich selbst schön zu finden. Denn, mega Erkenntnis für mich: Ich muss überhaupt nicht schön sein! Keine Ahnung, wo ich das überhaupt her hatte, aber irgendwie war da in mir immer dieser sehr seltsame Anspruch. Puh, wir müssen nicht gut aussehen, liebe Körperin! Wir dürfen einfach sein. Booom!

Natürlich sitzen solche alten, möglicherweise sogar transgenerationalen Glaubenssätze tief und lassen sich nicht einfach mit einem: „Ich bin gut, so wie ich bin“ wegwischen. Aber allein diese Erkenntnis, all die Jahre einem riesigen Irrtum aufgesessen zu sein, bewirkte schon etwas in mir.

Auch (Selbst-)Liebe ist ein großes Wort. Vielleicht geht es eher um Respekt und Wertschätzung dafür, was du schon alles mit mir durchgestanden hast? Ein Wohlwollen gegenüber dem, was gerade ist? Und ein liebevoller, mitfühlender Blick auf die Veränderungen, die du schon hinter dir hast und auf die, die uns ja noch unausweichlich bevorstehen?

Vorallem erkenne ich immer deutlicher die Verantwortung, die ich dir gegenüber habe. Für mich war es lange Fakt, dass es deine Schuld ist, wie du aussiehst. Dabei sind es doch meine Entscheidungen, die dich zu dem gemacht haben, was du bist.

Meine altbewährte Strategie, mich mit Essen zu belohnen, den Stress mit Süßem erträglicher zu machen oder dadurch Geborgenheit zu spüren, lässt sich nicht mit Willenskraft bekämpfen. Da geht es nicht ums Kalorien zählen, da geht es darum, alte Wunden zu heilen. Um dann endlich in Einklang zu kommen mit dir, um endlich mit dir eins zu werden.

Liebe Körperin, es ist mir mittlerweile wirklich (beinahe) egal wie du aussiehst – es ist mir wichtig, dass wir gesund und beweglich bleiben! Und ich weiß jetzt, dass ich gut für dich sorgen muss, damit das überhaupt möglich ist. Der Hormon-Reset-Kurs, den ich im Frühjahr begonnen habe, hat uns beiden so gut getan. Zur Zeit ist alles wieder etwas aus der Bahn geraten, aber ich mache uns keine Vorwürfe. Ich weiß, dass wir es früher oder später gemeinsam schaffen werden!

Im gerade vergangenen Sommer trugen wir übrigens das erste Mal kurze Hosen. Ist dir das aufgefallen? Mit 51 Jahren! In der Öf-fent-lich-keit! Mensch, was könnte ich mich ärgern, dass ich uns das nicht schon viel früher gegönnt habe! Ich ging sogar mit unrasierten Beine unter die Leute. Ach, das Leben kann so leicht sein!

Liebe Körperin, bitte verzeih mir meine späte Einsicht. Vielleicht war das noch kein waschechter Liebesbrief, aber ich freue mich auf noch viele unbeschwerte Jahre mit dir

deine Lilly

5 Kommentare

  1. Liebe Carolin 💚 wow! was für ein wundervoller Liebesbrief 🫶🏻 das Wort „Körperin“ geht mir direkt ins Herz. Das fühlt sich so richtig richtig an. Danke dafür! und danke, dass du Teil meiner Blogparade bist ❤️ Herzensumarmung, Sandra

    1. Liebe Sandra,

      vielen Dank für deinen Impuls diesen Liebesbrief zu schreiben! Ich freue mich sehr, dass ich damit Teil deiner Blogparade sein kann. Und dass ich mir selbst durch diesen Brief wieder ein Stückchen näher gekommen bin. Long journey!

      Das Wort ‚Körperin‘ finde ich auch Klasse, es fühlte sich echt komisch an, Körper zu schreiben…

      Herzensgrüße zurück
      Carolin

    1. Vielen Dank für deine Rückmeldung, liebe Marianne. Ja, sehe ich auch so, deshalb habe ich den Artikel auch unter Biografiearbeit getaggt. Ich würde sagen, so ziemlich alles hier ist für mich Biografiearbeit…;-)
      Herzliche Grüße
      Carolin

  2. Liebe Carolin,
    WOW! Ich bin gerade zu Tränen gerührt und kann alles so gut nachempfinden! Der Brief ist so liebevoll geschrieben und so persönlich. Ich verneige mich vor Dir und Deinem Mut dich auch so der digitalen Öffentlichkeit zu zeigen! Großartig und Klasse! Wie schon mitgeteilt, du hast es drauf ein Buch zu schreiben! ✍️
    Viele liebe Grüße

    Claudia

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner