Mein Geständnis: Ich war eine Alptraum-Schülerin

Meine Versetzung war gefährdet, eine 5 in Französisch (zusätzlich zur 5 in Chemie) hätte mir den Hals gebrochen, also hatten sich zwei Klassenkameraden mächtig ins Zeug gelegt, um meinen Französischlehrer zu überzeugen, dass er mir doch lieber eine 4 geben sollte. Auch ich zeigte mich von meiner besten Seite – und wir hatten Erfolg, er entschied sich für die bessere Note. Beim Hinausgehen meinte er ziemlich verblüfft zu mir: „Du kannst ja eigentlich ganz nett sein.“

Jugendlicher Übermut

Tja, sorry, lieber Herr B., in meinem jugendlichen Übermut hielt ich Sie für komplett inkompetent und es fiel mir deshalb sehr schwer, Sie ernstzunehmen und ’nett‘ zu sein.

Die Religionslehrerin und ich hatten es ebenfalls nicht leicht miteinander. Einmal sollten wir auf einen Zettel schreiben, wer wir sind oder wie wir uns fühlen, an die genaue Aufgabenstellung kann ich mich nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich ging es um eine Art Selbstfindung und die gute Frau hielt sich für sehr progressiv und einfühlsam. Das kam bei mir irgendwie nicht so an. Und so schrieb ich auf meinen Zettel, den ich dann auch stolz verlas: „Ich bin eine Planierraupe.“

Auch sonst plagte ich die Religionslehrerin mit vorlauten Kommentaren, ich fand sie einfach zuuu doof. Als sie mir einige Jahre später im Bus begegnete und ich sie dann doch irgendwie freudig begrüßte ob des unerwarteten Wiedersehens, ignorierte sie mich eiskalt. Fair enough!

Einmal unterhielt ich mich während des Mathematikunterrichts angeregt mit meiner Nebensitzerin. Der noch recht junge Lehrer wollte uns wohl auf coole Art zur Ordnung rufen und meinte: „Dann geht halt nach Hause, wenn es euch nicht interessiert.“ Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und begannen, unsere Sachen einzupacken.

Völlig entsetzt, fast den Tränen nahe, starrte er uns an, so hatte er es nicht gemeint. Seine Reaktion, mit der er sich verletzlich zeigte, machte mich tatsächlich ziemlich betroffen und ich verhielt mich für den Rest der Stunde sehr vorbildlich.

Desinteresse am Unterricht

Physik fiel bei mir zum Glück aus der Wertung, weil ich Latein als Hauptfach gewählt hatte. Das ließ mir viel Spielraum, in den Klassenarbeiten meine ganze Kreativität einzubringen und mir wirklich sehr lustige Antworten auf die anscheinend ernst gemeinten Fragen auszudenken. Der Lehrer erwies sich jedoch als völlig humorlos. Ohne weitere Kommentare schrieb er seine Sechsen darunter.

Meist saß ich teilnahmslos im Unterricht und malte Herzchen in Bücher und Hefte. Eigentlich ging ich nur noch in die Schule, um meine Mitschüler*innen und auf dem Pausenhof meinen aktuellen Schwarm (Crush, wie man heute sagt) zu treffen. Wenn jemand Geburtstag hatte, brachte ich meistens einen selbstgebackenen Kuchen mit. Besonders gefragt war meine Schwarzwälder Kirschtorte.

Hausaufgaben machte ich grundsätzlich nicht, Vokabeln lernte ich, wenn überhaupt, in der Pause vor dem Test. Für Englisch funktionierte das erstaunlich gut, für Französisch leider nicht. Immer, wenn es irgendwo knapp wurde, strengte ich mich dann doch auch mal etwas an. Beim kleinen Latinum hatte ich eine 5 in der Klausur, dadurch war mindestens eine 2,5 im Mündlichen nötig. Ich schaffte eine 2.

Engagierter Schulleiter

Die 12. Klasse habe ich für ca. 4 Wochen wiederholt, weil ich im Schuljahr davor so oft den Unterricht geschwänzt hatte. Vermutlich wusste unser Rektor um meine schwierige Situation zuhause und wollte mich unterstützen. In mehreren Gesprächen ging es darum, wie er mir in Bezug auf die Schule helfen könnte.

Mein damaliger Freund schlug vor, ich solle das Schuljahr wiederholen, um wieder etwas motivierter am Unterricht teilzunehmen. Das klang nicht ganz abwegig. Und tatsächlich: Um mir einen Neuanfang zu ermöglichen, stimmte der Rektor schließlich einer -eigentlich nicht legitimen- Wiederholung des Schuljahres zu.

Als ich trotzdem nicht regelmäßig in den Unterricht kam, ließ er nach einem weiteren Krisengespräch die Rückkehr in meine alte Klasse zu, obwohl dazu sogar Verhandlungen mit dem Regierungspräsidium notwendig waren, da alle Meldedaten schon abgegeben waren.

Seine Bedingung dafür war aber, dass meine LK-Lehrer*innen dem zustimmten und es für realistisch hielten, dass ich den Anschluss wieder finden würde. Zum Glück hatten beide keine Einwände und so konnte ich das Abi nach ursprünglichem Zeitplan machen. Ganz herzlichen Dank an dieser Stelle für Ihren unbürokratische Einsatz, lieber Herr Sochor!

Mein Start war eigentlich vielversprechend

Dabei bin ich als Musterschülerin gestartet: Ich ging sehr gerne in die Schule, das Lernen fiel mir leicht. Bis Klasse 5 war ich jedes Schuljahr Klassensprecherin, stets Ansprechpartnerin der Lehrer*innen, wenn es darum ging schwächeren Mitschüler*innen zu helfen.

Am Unterricht nahm ich rege teil und trug immer auch viel Zusätzliches bei. Zu Beginn der 7. Klasse noch hielt ich in Biologie ein freiwilliges Referat über Pilze, inspiriert von einem GEO-Artikel, der mich sehr begeistert hatte. Im Unterricht stand aktuell ein ganz anderes Thema auf dem Plan, aber ich hatte den Lehrer gebeten, das Referat halten zu dürfen, weil ich mein Wissen darüber unbedingt teilen wollte.

Eine 3 im Zeugnis kannte ich zwar schon aus der Grundschule, da hatte ich regelmäßig eine in Textiles Werken, obwohl meine Oma mich bei den anzufertigenden Arbeiten tatkräftig unterstützte. Als ich aber in der 7. Klasse das erste Mal eine 3 in einem Hauptfach (Mathe) hatte, dachte ich, die Welt geht unter.

Auch dem naturwissenschaftlichen Unterricht stand ich anfangs sehr aufgeschlossen gegenüber. Ich habe noch ein Foto von meinem Gabentisch anlässlich meines 14. Geburtstages, neben einer Madonna-LP sind ein Chemie- und ein Physikkexperimentierkasten zu sehen. Im ersten Jahr Chemie hatte ich noch eine 2, im zweiten dann eine 5.

Was war geschehen?

Natürlich war ich keine Alptraumschülerin (Clickbait as clickbait can), sondern ein Mädchen, das sich aufgrund verschiedener Umstände nicht ganz so unkompliziert ins Schulsystem einfügte.

Einen großen Anteil daran hatten sicherlich die schwierigen Verhältnisse daheim. Während der 7./ 8. Klasse kristallisierte sich die Alkoholabhängigkeit meiner Mutter immer mehr heraus. Ungefähr gleichzeitig begann mein Vater, beruflich nach Frankfurt zu pendeln, er war also nur noch am Wochenende zuhause.

Die alkoholbedingten Ausfälle meiner Mutter wurden ziemlich bald mehr und schwerwiegender. Wenig später trennten sich meine Eltern und mein Vater zog aus. Meine Geschwister und ich hatten zwar die ‚Wahl‘, mit nach Frankfurt zu kommen oder auf ein Internat zu wechseln, wollten verständlicherweise aber lieber in unserem gewohnten Umfeld bleiben. Kurz gesagt: Meine bisher recht solide Familienbasis begann erst zu bröckeln, um dann sehr schnell komplett zu zerfallen.

Ein anderer Aspekt war, dass meine extrovertierte, engagierte Art zwar in den Grundschuljahren sehr gut bei meinen Mitschüler*innen angekam. Je weiter aber die Pubertät fortschritt, desto mehr fiel mir durch Beobachtungen auf, dass bei den Jungs ein ganz anderer Typ Mädchen gefragt war. Das Ganze gipfelte darin, dass ich in der 8. Klasse durchs Klassenzimmer gejagt und gehänselt wurde (siehe dazu die Fun Facts Nr. 13), was mich endgültig zum Rückzug nach Innen veranlasste.

Neben diesen beiden Faktoren gibt es noch einen weiteren, der sich bis heute auf mein Leben auswirkt und dessen Erkennen auch für meine Tätigkeit als Lehrerin und Coachin eine wichtige Rolle spielt: Ich hatte ein Fixed Mindset.

Fixed Mindset

Wie ich heute weiß, hatte ich in Bezug auf die Schule bzw. meine schulischen Leistungen ein Fixed Mindset. Da mir sehr vieles sehr leicht fiel und ich die ersten Jahre kaum üben musste, um irgendwelche Lehrplanziele zu erreichen, ging ich davon aus, dass dies so sein müsste: „Was ich kann, kann ich, was nicht gleich auf Anhieb klappt, ist halt einfach nicht so meins.“

Größere Anstregungen oder gar Rückschläge in Kauf zu nehmen, um ein Ziel zu erreichen, kam für mich nicht in Frage. Im Gegenteil, ich wurde sogar zu einer Leistungsverweigererin, weil ich Angst hatte, den (für mich zweifelhaften) Ruf als intelligente Schülerin zu verlieren. Denn was wäre, wenn ich mich für etwas wirklich anstrengte und dann herauskäme, dass ich es nicht erfolgreich meistern könnte?

Um ehrlich zu sein, hatte ich dieses statische Selbstbild noch weit in meine Lehrerinnentätigkeit hinein. Erst durch Caroline von St. Ange hörte ich vom Growth Mindset und wurde ich mir meiner einschränkenden Glaubenssätze bewusst! Übrigens passiert es mir noch heute, dass ich Projekte gar nicht erst angehe, um mir das Scheitern zu ersparen. „Ich könnte ja, wenn ich wollte, aber ich will lieber gar nicht.“ Allerdings weiß ich jetzt, was dahinter steckt und bin dem nicht mehr ausgeliert.

Darum halte ich es heute für gefährlich, ‚faule‘ Schüler*innen, bei denen ich genau weiß, dass sie das Zeug dazu hätten, mit Sätzen wie „Ich weiß, dass du es eigentlich könntest!“, „Hey, du hast es doch eigentlich drauf!“ oder ähnlichem aufzumuntern. Das ist zwar gut gemeint, zementiert aber eben jenes fixed Mindset, das jede Anstrengungsbereitschaft im Keim erstickt. Der Glaube, ich könnte es ja, wenn ich nur wollte, führt geradewegs dazu, jedes Risiko oder jeglichen Einsatz erst recht zu vermeiden.

Stattdessen finde ich es wichtig, die Kinder für ein Growth Mindset zu sensibilisieren.

Growth Mindset

Bei meinen Schüler*innen achte ich darauf, eine Lernumgebung zu schaffen, die ein Growth Mindset ermöglicht. Dazu gehören für mich folgende Aspekte:

Positive Fehlerkultur

Schule ist leider oft immer noch ein Ort, an dem es gilt, Fehler zu vermeiden, anstatt aus ihnen zu lernen und auch zu akzeptieren, dass jeder Mensch Fehler macht. Dabei gehören Fehler zu jedem Lernprozess dazu und nur wer weiß, dass er Fehler machen darf, ohne dafür beschämt oder bestraft zu werden, kann sich mutig und selbstbewusst auf den Weg machen.

Denn FEHLER sind HELFER! Das ist ein witzigerweise ein Anagramm, das man die Kinder zum Beispiel als gemeinsames Rätsel herausfinden lassen kann.

Ich kann es NOCH nicht

Es gibt einige Kinder, die eine solche Angst davor haben, etwas falsch zu machen, dass sie lieber gar nichts machen. Denen sage ich gerne: „Du lernst das ja noch, darum bist du hier. Denn wenn du schon alles könntest, müsstest du ja nicht mehr zur Schule gehen.“

Ein sehr wichtiger Satz für uns alle, der ein Umdenken in den allermeisten Situationen möglich macht, ist deshalb: „Ich kann es NOCH nicht!“ Ich kann es schaffen, wenn ich mich dafür ins Zeug legen.

Prozessbezogenes Feedback

Das Gegenteil dazu wäre leistungsbezogenes Feedback, wie es typischerweise in der Vergabe von Noten erfolgt. Für die Schüler*innen zählt dann eigentlich nur, was am Ende herauskommt und nicht, wie sie dahin gekommen sind. Prozessbezogenes Feedback hingegen würdigt die individuellen Entwicklungsschritte und unterstützt die Kinder dabei, ihren Lernprozess wahrzunehmen und aktiv zu gestalten.

Kurz zusammengefasst: Anstatt Schüler*innen für das Ergebnis zu loben, ist es zielführender, Anstrengungen, die sie unternommen, Herausforderungen, die sie überwunden und Fortschritte, die sie dabei gemacht haben, anzuerkennen.

Lernen am Vorbild

Wie alle Eltern ja bestens wissen, lernen Kinder am ehesten am Vorbild (und weniger an dem, was wir ihnen erzählen…). Anstatt also die allwissende Lehrerin zu geben, der immer alles gelingt, stehe ich zu meinen Versäumnissen, wenn ich etwas nicht auf Anhieb weiß oder auch mal etwas vergessen habe.

Allerdings merke ich, wie tief verwurzelt das fehlerorientierte Denken bei mir selbst noch ist, wenn ich z.B. einen Schreibfehler an der Tafel entdecke. Da muss ich mir schon sehr auf die Zunge beißen, um nicht einen Satz loszulassen wie „Oh Mann, bin ich dumm!“ Und NOCH nicht immer gelingt mir das.

Für nächstes Schuljahr nehme ich mir außerdem vor, den Kindern öfter kleine Videoclips zu zeigen, in denen Menschen zunächst zu scheitern drohten, dann aber doch noch Erfolg hatten, weil sie nicht aufgaben. Hier und hier zwei Beispiel auf Instagram.

Kanntest du schon die verschiedenen Mindset-Typen? Was denkst du, in welchen Bereichen du schon ein Growth Mindset hast? Und wie war deine Schulzeit? Kommentiere gerne unter dem Artikel!

5 Kommentare

  1. Liebe Carolin, was für ein sympathischer Artikel! Respekt für deinen Mut, so offen über die Probleme in der Schule zu reden. „Ich kann es NOCH nicht“, ist eine der genialsten Aussagen, die ich je gehört habe.

  2. Liebe Carolin, was für eine Freude, deinen Beitrag zu lesen. Eine „Albtraum Schülerin“ die Lehrerin wird – etwas besseres kann deinen Schüler*innen ja gar nicht passieren. Ich habe mit Schule schon lange nichts mehr zu tun, aber in zwei Jahren kommt die Enkelin in die Schule, da sind deine Tipps – Prozessbegleitung und „noch nicht“ so hilfreich.
    Ich selbst gehörte wohl eher in die Grow Mindset Kategorie, mit Tendenz zu ein paar negativen Ausprägungen. Heißt: Aufgeben gab es nicht. Ich tüftelte so lange rum, bis ich eine Lösung hatte, die ich akzeptierte. Glaubenssatz dahinter: Ich beweise euch, dass ich nicht dumm bin.
    Hat eine Weile gedauert, bis ich das nicht mehr beweisen musste, weil ich es mir so oft bewiesen hatte.
    Die Haltung: da gibt es sicher eine Lösung, auch wenn ich sie noch nicht kenne, begleitet mich noch immer.

  3. Ein sehr starker Artikel, liebe Carolin! Ich finde den Perspektivwechsel von der vermeintlichen „Alptraum-Schülerin“ zur Aufschlüsselung der Ursachen und Methoden, dem entgegenzuwirken sehr gut dargestellt und hervorragend erklärt. Ich hatte in der Schule auch ein fixed Mindset mit schlechten Noten und war damit frustriert und fühlte mich alleine gelassen. Deine Schüler*innen können froh sein, dich als verständnisvolle Lehrerin zu haben.

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