Ho, ho, hochbegabt?! Eine Polemik

Nichts ist so gerecht verteilt wie die Intelligenz, jeder denkt, er hat genug davon.

(frei nach René Descartes)

Puh, jetzt ist es also so weit, ich lüfte mein größtes Geheimnis! Jeder, der es wissen möchte, weiß, dass meine Mutter Alkoholikerin war, dass ich vier Kinder von zwei Vätern habe (3:1), dass ich momentan meine zweite Scheidung erlebe, dass meine älteste Tochter mehr oder weniger den Kontakt zu mir abgebrochen hat. Und ja, auch, dass ich momentan seit über drei Monaten schon arbeitsunfähig wegen ‚Burnout‘ bin, verschweige ich niemandem. Was könnte da jetzt noch kommen?

Das aller-, allerpeinlichste, was du dir vorstellen kannst: Vom IQ her bin ich hochbegabt. Ich schränke es gleich ein, denn, ich habe eigentlich keine außergewöhnlichen Begabungen. Ok, ich kann sehr gut einparken und bei ‚You don’t know Jack‘, wo es vor allem auf Schnelligkeit und um die Ecke-Denken ankommt, war ich unschlagbar – aber ja, das haut jetzt wohl keine*n von den Socken.

Plötzlich hochbegabt?

Warum ich dann jetzt überhaupt damit rausrücke? Ehrlich gesagt, ich bin es leid. Es reicht mir. Ich hasse die Leute, die sich über Eltern lustig machen, die mit ihren ‚hochbegabten‘ (jaja, in Anführungszeichen, kicher, wir verstehen uns) Kindern angeben müssen. Vielleicht gibt es die. Aber warum verdammt noch mal, fühlt sich Hinz und Kunz davon so hart getriggert? Wieso meint jeder ‚gute‘ Elternteil betonen zu müssen, wie ’normal‘ seine Kinder seien und wie ok das ist?! Sorry, not sorry, was für ein bullshit!

Huch, jetzt wird es emotional. Es hat eine Vorgeschichte. Die überhaupt nichts mit Eltern und Kindern zu tun hat. Sondern mit einer m.E. übergriffigen Ärztin und mir. Ich habe lange überlegt, wie ich mit dieser Sache umgehen soll, schließlich bin ich von dieser Ärztin in gewisser Weise abhängig, möchte es mir mit ihr also nicht verscherzen. Andererseits werde ich von Tag zu Tag wütender und muss mir mal Luft machen.

Was ist also passiert? Am Freitag hatte ich einen weiteren „Krankschreibungs-Termin“. Ich hasse diese Termine, fühle mich immer so ausgeliefert und eingeschüchtert. I know, mein Problem, und ich arbeite daran, siehe auch meinen Artikel „Wann stehst du endlich für dich ein“. Dieses Mal war die Ärztin ganz erleichtert, dass ich endlich einen Termin bei einer Psychologischen Psychotherapeutin in Aussicht habe, also endlich mal eine Fachärztin draufschaut. Das begrüße ich übrigens ebenfalls sehr.

Gut gemeinte Ratschläge

Sie gab mir dann den Rat, „wirklich offen zu sein, also alle Symptome zu erwähnen und nicht {meine} eigene Diagnose gleich einzubringen“. Ich war einigermaßen baff, aber gut gewappnet (Ich stehe ab jetzt nämlich für mich ein), und fragte deshalb in ruhigem Ton zurück, was genau sie denn damit meine, ob ich ihrer Meinung nach denn hier Geschichten erzähle. Sie war kurz irritiert, antwortete dann aber sachlich, sie habe den Eindruck, ich könnte es einfach nicht akzeptieren, dass ich eine depressive Episode habe (und Psychopharmaka nehmen sollte, das hatten wir schon öfter).

Etwas aufgebracht erwiderte ich, dass ich mit meinen 52 Jahren mittlerweile glaube, sehr gut einschätzen könne, wie es mir gehe und was ich bräuchte. Da lächelte sie nur milde und meinte, das würde ja schließlich jeder Patient behaupten. Und überhaupt, dieses eigenmächtige Googeln und Diagnosestellen, ts. Wieso ich zum Beispiel immer mit der ADHS-Sache käme, das könne ja nun wirklich gar keine Rolle spielen, wo ich doch all die Jahre damit gut zurechtgekommen sei. (Äh, schon mal was von masking gehört?)

ADHS und Hochsensibilität, die sie aber auch nur als weiteres Indiz für mein angegriffenes Nervensystems nahm, hatte ich als mögliche Co-Faktoren für das Burnout schon öfter erwähnt, um sie mal von der Depressionssache abzubringen. Für sie waren das aber nur Versuche meinerseits, dem Unausweichlichen nicht ins Auge sehen zu müssen: depressive Episode! Psychopharmaka!

Es ging dann noch kurz hin und her, blieb dabei beiderseits recht sachlich und ruhig, und so verließ ich die Praxis dann eigentlich zunächst sehr zufrieden. Denn mein vorrangiges Ziel war es ja gewesen, für mich einzustehen (also mal nachzuhaken- die letzten Besuche liefen nämlich schon ähnlich, aber da saß ich immer da wie ein kleines Mädchen und kriegte kaum was raus) und das hatte ich erreicht! Yeah! Außerdem fand ich es für unser Ärztin-Patientin-Vertrauensverhältnis auch ganz gut, dass die Dinge nun tatsächlich ausgesprochen waren und ich rechnete es ihr hoch an, dass sie offen war und nicht ausgewichen ist.

So, und jetzt rege ich mich von Tag zu Tag mehr darüber auf, wie wenig professionell dieses Verhalten in meinen Augen insgesamt aber doch ist (und ach wie typisch für die Götter und Göttinnen in weiß, huch, schon wieder sorry, not sorry, isso). Wie wenig auf Augenhöhe, wie von oben herab, wie an der betroffenen Person, nämlich an mir, vorbei…

Worum geht es denn hier nun eigentlich? Ho, ho, hochbegabt?

Ui, das war jetzt eine ganz schön lange Einleitung, Respekt an alle, die bis hier gelesen habe. Jetzt komme ich zum eigentlichen Thema: Wie arrogant und überheblich sind diese selbsternannten Hochbegabten eigentlich?! Tatsächlich kocht in mir gerade so eine Wut, dass ich manchmal echt denke, wie dumm kann man eigentlich sein?! Und dann echt keinen Bock mehr habe, mich ständig mit so geistig eingeschränkten Leuten rumzuärgern. Hihi, lass ich das jetzt stehen oder streiche ich es lieber wieder?

Jedenfalls hat die Psychotherapeutin, die ich vor zwei oder drei Wochen auf gut Glück angeschrieben hatte, weil sie auf Hochbegabung spezialisiert ist, dann am Wochenende den Termin für unser Erstgespräch festgemacht. Daraufhin habe ich im Internet erst genauer geschaut, was ich über sie finden kann und bin auf eine Veröffentlichung von ihr gestoßen, die ich natürlich gleich gelesen habe. Und was soll ich sagen, ich war so erleichtert, dass ich in Tränen ausgebrochen bin.

Das letzte Mal, dass ich mich intensiver mit dieser Hochbegabungssache auseinandergesetzt habe, war vor ca. 10 Jahren (den Test habe ich 2003 gemacht). In den letzten Jahren hatte ich kaum mehr darüber nachgedacht, aber als es jetzt darum ging, psychologischen Beistand zu suchen, war es mir -gerade aufgrund solcher Erfahrungen wie mit der Hausärztin oder dem Chefarzt der psychosomatischen Klinik- wirklich wichtig, jemanden zu finden, die das nötige Hintergrundwissen mitbringt.

Bei dieser Psychotherapeutin fühlte mich alleine durch das Lesen ihrer Studie so gesehen und verstanden und habe nun so eine Hoffnung, bei ihr in guten Händen zu sein! Im Laufe der Zeit kommt jetzt nach und nach aber auch der ganze Frust und die ganze Wut darüber hoch, wie ich immer auf der Hut war: bloß auf keinen Fall auffallen, bloß auf keinen Fall irgendwie herausstechen.

Und plötzlich ist es mir ganz wichtig, darüber zu schreiben. Auch hier zu mir zu stehen, für mich einzustehen!

Ja, es sind zum Teil meine eigenen Ängste, denen ich mich stellen muss. Und gleichzeitig leben wir halt auch in einem System, das alle Abweichungen bestraft. Alle Menschen sind gleichwürdig, und dennoch gibt es unterschiedliche Bedürfnisse und tatsächlich auch typische Besonderheiten, die eigentlich geschätzt und nicht pathologisiert werden sollten.

Amen!

Kleinlautes Postscriptum: Noch habe ich gar keine offizielle Diagnose. Eventuell habe ich also doch eine depressive Episode. Sollte dem so sein, gäbe es für mich keinen Grund, das nicht wahrhaben zu wollen. Eventuell aber schon Gründe, warum ich keine Psychopharmaka nehmen würde. Momentan fühle ich es halt einfach nicht und bin so frei, das auch zu sagen.

PPS: Zu ADHS ja, nein und/ oder werde ich auch noch einen Artikel schreiben. Auf jeden Fall finde ich es bemerkenswert, dass es mir bisher sicherer erschien, mit der mutmaßlichen ADHS-Diagnose rauszurücken, als die Hochbegabung zu erwähnen.

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